36,9° by Nora Bossong

36,9° by Nora Bossong

Autor:Nora Bossong
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783446249967
Herausgeber: Carl Hanser Verlag München 2015
veröffentlicht: 2015-07-23T16:00:00+00:00


Als er ihr das erste Mal begegnet, sieht er sie nicht. Er sieht Julia. Er sieht einen Schemen, der aus seiner Erinnerung ausgebrochen ist und sich selbständig macht. Es ist ein verraucht nebliger Morgen, in der Straßenbahn drängen sich die Menschen zusammen, sie haben gerade die Via Nomentana passiert, gleich werden sie über die Piazza Buenos Aires fahren, ein charmantes kleines Rund mit Villen und Löwen aus Sandstein, die auf das wackelige überfüllte Gefährt herrisch herabblicken. Danach die gewaltige Villa Borghese, an dessen Außenseite sie lange entlangfahren, auf den Tierpark zu, man wird, wenn der Wind richtig steht, die Elefanten hören können. Die Türen sind bereits zugeklappt, es ist stickig und die Arme der Menschen feucht vom Schweiß, er dreht seinen Kopf, sieht eine Frau, die, als sie ihm kurz das Gesicht zuwendet, zu vertraut aussieht, er stutzt, er denkt an Julia. Er denkt an seinen Sohn. 3600 Gramm, dunkle Haare, blaue Augen, ein schön geformtes Köpfchen, hat ihm Julia im August geschrieben. »Er sieht aus, als wäre er in der Sonne gereift.«

Menschen schieben sich zwischen ihn und die Frau, Arme streifen ihn, klamme Abdrücke bleiben auf seiner Haut zurück, er sieht das runde Gesicht mit den scharfen Linien der Augenbrauen, den zierlichen Körper und fragt sich, ob sein Wünschen so dringlich geworden ist, dass es nun wahrhaftig vor ihm steht, ob sie aus Iwanowo angereist ist, ohne ihm Bescheid zu geben.

Nein, unmöglich. Ein Wunsch hätte zumindest gegrüßt.

Und dann weiß er es. Tanja. Er hat gerade Julias Schwester gesehen, nach der er wochenlang auf der Suche war, die Schuchts hatten ihn darum gebeten. Als die Familie nach Russland zurückging, ist Tanja in Rom geblieben. »Um ihr Studium abzuschließen«, wie Julia behauptet hat. »Das ist doch nur die halbe Geschichte«, hat Gramsci entgegnet. »Naturwissenschaften«, hat Julia nur geantwortet. »Sie war sehr begabt.«

Er will hinaus, er will ihr nach, aber die Tram hat ihn bereits weit von ihr weggezogen. Als er an der nächsten Haltestelle aussteigt, duckt er sich zusammen wie ein geschlagener Köter und eilt die Schienen entlang in die entgegengesetzte Richtung. Die Menschen auf dem Trottoir weichen ihm aus. Er bemerkt es nicht mehr oft, er hat sich daran gewöhnt, an diese Blicke, aber heute spürt er all den Unwillen, den er lange schon gegen sich spürt, gegen diesen fehlgewachsenen Körper.

Er schlägt sich noch tiefer in den Mantel ein, er friert mit einem Mal, dabei sind es über zwanzig Grad, die Luft kommt ihm bleiern vor, und drüben, auf der anderen Straßenseite, kracht eine Tür so laut ins Schloss, als wolle sie bis nach Moskau klingen. Er hat Angst, plötzlich hat er Angst vor dem Hydranten neben ihm, vor der nächsten Straßenkreuzung, vor den Gedanken, die ihn zurückschlagen in seine Einsamkeit, in diesen Kokon, durch den nichts hindurchkommt, nur Buchstaben und Zahlen.Dieses Straucheln in den Nerven und in den Gedanken, das man Verliebtheit nennt, nur wohin damit, es hat doch in Rom keinen Ort und kein Ziel, und überhaupt müsste er jetzt zu einer Versammlung, und Tanja wird fort sein, in die eine Straße abgebogen oder in die andere.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.